Ermittlungen im Fall Lorenz A.: Ohne Warnschuss erschossen
Die Polizei hat im Fall des getöteten Lorenz A. laut Staatsanwaltschaft wohl keinen Warnschuss abgegeben. Ob Anklage erhoben wird, ist nicht sicher.

Der Rechtsbeistand von Lorenz A.s Mutter, Thomas Feltes, erklärt vor diesem Hintergrund: „Ein Schusswaffengebrauch muss immer angedroht werden, es sei denn, es besteht eine unmittelbare Gefahr. Die Androhung kann auch durch einen Warnschuss erfolgen.“
Der Konfrontation mit der Polizei war in der Nacht auf Ostersonntag eine Auseinandersetzung vor einer Bar in der Oldenburger Innenstadt vorausgegangen, an deren Ende Lorenz A. Pfefferspray versprüht haben soll. Daraufhin soll er von mehreren Personen verfolgt worden sein. Um sie abzuschütteln, soll er seinen Verfolgern ein Messer gezeigt und dann wieder eingesteckt haben. Anschließend ist er weiter durch die Innenstadt geflüchtet. Nach einem ersten Treffen auf die Polizei ist er in der Achternstraße auf eine zweite Polizeistreife gestoßen.
Nur schemenhafte Videoaufnahmen
Er lief laut Staatsanwaltschaft an den Polizisten vorbei, wobei er Pfefferspray in ihre Richtung gesprüht haben soll. Dann schoss ein Beamter und traf ihn mit drei Kugeln von hinten. Ein vierter Schuss streifte seinen Oberschenkel. In einer ersten Pressemitteilung hatte die Polizei noch behauptet, Lorenz A. sei „bedrohlich“ auf sie zugegangen. Das Interesse an dem Fall ist bundesweit groß.
Um den genauen Ablauf der Ereignisse nachzuvollziehen, hat die Polizei gemeinsam mit dem Landeskriminalamt Niedersachsen Audio- und Videoaufnahmen der Oldenburger Innenstadt aus der Tatnacht gesammelt, zusammengefügt und ausgewertet. Das Ergebnis ist ernüchternd.
Die etwa 20 Sekunden an relevantem Material seien aufgrund der Videoqualität und der Sichtverhältnisse „teilweise nur schemenhaft“. Laut Staatsanwaltschaft sei eine vollständige Rekonstruktion der Geschehnisse allein auf Grundlage der Videoaufzeichnungen deshalb nicht mehr möglich.
Keine Bodycam-Aufnahmen
Ein klares Bild hätten Bodycam-Aufnahmen der Polizist*innen liefern können. Die Kameras waren jedoch bei allen beteiligten Beamt*innen ausgeschaltet, wie die Staatsanwaltschaft schon in der Woche nach den Schüssen mitteilte.
Weitere Erkenntnisse erhofft sie sich durch ein bereits vorliegendes Gutachten zu Schmauchspuren an der Kleidung von Lorenz A. und noch ausstehende technische Gutachten, darunter eine 3D-Rekonstruktion des Tatortes durch das Landeskriminalamt. Auch den Funkverkehr hat die Staatsanwaltschaft ausgewertet.
Zuständig für die andauernden Ermittlungen in Oldenburg ist die benachbarte Polizeiinspektion Delmenhorst. 2021 starb in deren Gewahrsam unter bis heute nicht geklärten Umständen Qosay Khalaf. Damals ermittelte Oldenburg, aus „Neutralitätsgründen“, wie nun umgekehrt die Delmenhorster Kolleg*innen zuständig sind. Beide Polizeiinspektionen unterstehen der Polizeidirektion Oldenburg.
„Es reicht nicht, auf interne Ermittlungen zu vertrauen“, kritisiert die Initiative „Gerechtigkeit für Lorenz“. Sie fordert neben der lückenlosen Aufklärung des Falls eine unabhängige Beschwerdestelle für die Polizei, den verpflichtenden Einsatz von Bodycams und Maßnahmen gegen institutionellen Rassismus.
Ähnlicher Fall in Düsseldorf
Es deutet nichts darauf hin, dass für den Oldenburger Polizisten oder andere eine Gefahr für Leib und Leben bestand. Ob die Staatsanwaltschaft Anklage erheben wird, ist dennoch nicht sicher. Bei Fällen von rechtswidriger Polizeigewalt landen am Ende des Ermittlungsverfahrens nur etwa zwei Prozent tatsächlich vor Gericht.
Selbst wenn Polizist*innen sich vor Gericht verantworten müssen, haben sie fast nie mit Konsequenzen zu rechnen, wie zuletzt am Dienstag ein Urteil in Düsseldorf zeigte. Dort hatte ein Polizist nach einer Auseinandersetzung auf einen psychisch kranken Mann geschossen. Wie in Oldenburg schoss der Polizist auch in Düsseldorf von hinten. Der heute 33-jährige Angeschossenen wurde lebensgefährlich verletzt und musste notoperiert werden.
„Er hätte die Schüsse nicht abgeben dürfen“, erklärte der Vorsitzende Richter am Landgericht. Sie seien nicht verhältnismäßig gewesen, Notwehr habe nicht bestanden. Trotzdem sprach er den Angeklagten frei. Die Begründung: Der Polizist habe sich in einer hochdynamischen Situation befunden und unter enormem Stress eine Fehleinschätzung getroffen. Das sei nicht strafbar. Ähnlich argumentieren im Fall Lorenz A. die Polizeigewerkschaften und Teile der Politik.
Die Staatsanwaltschaft in Düsseldorf hat Revision eingelegt. Der Fall landet jetzt beim Bundesgerichtshof. Dessen Entscheidung dürfte wegen der Parallelen auch für den Fall in Oldenburg relevant sein.
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